Heimalltag: Die Bewohner passen wieder besser aufeinander auf

Vor einem halben Jahr drang das Corona-Virus – allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz – in das BRK-Seniorenheim in Geisenhausen ein. 22 Bewohner infizierten sich, sieben Menschen starben. Die fordernden Tage haben Spuren hinterlassen – bei den Angehörigen genauso wie bei den Mitarbeitern. Doch die Zeit hat auch einiges zum Positiven verändert. Die Betreuungsangebote sind kleiner, aber feiner und kreativer geworden. Die Bewohner reden wieder viel mehr miteinander – und so mancher hat zu neuer innerer Ruhe gefunden.

Von Frank Betthausen

Geisenhausen. Ein gutes halbes Jahr ist es her, dass die Corona-Pandemie das Leben im BRK-Seniorenheim in Geisenhausen (Landkreis Landshut) auf den Kopf stellte. Am 14. Dezember drang das heimtückische Virus – allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz – in die Einrichtung ein. 22 Bewohner infizierten sich, sieben Menschen starben. Die fordernden Tage haben Spuren hinterlassen. In den Köpfen der Angehörigen und Bewohner, aber auch bei den 90 Mitarbeitern, die während des Ausbruchsgeschehens – es galt ein strenges Besuchsverbot im Haus – vielen Senioren die sozialen Kontakte ersetzten.

„Auch wir machen Trauerbegleitung – und die ist noch nicht abgeschlossen." Pflegedienstleiterin Silke Piller

„Das sind Dinge, die trägt jede einzelne Pflegekraft mit sich“, sagt Pflegedienstleiterin Silke Piller in der Rückschau. „Jeder von uns hat Bewohner verloren, die uns nah waren. Auch wir machen Trauerbegleitung – und die ist noch nicht abgeschlossen.“

Sechs Monate später wühlt die Zeit die 43-Jährige immer noch auf. Erst recht aus dem Gefühl heraus, dass es nach ihren Erfahrungen immer wieder Menschen gab, die vorschnell und mit übereifriger Kritik auf ihren Berufsstand zeigten oder sich an vermeintlichen Kleinigkeiten stießen. „Wie viel die Kollegen im Dezember und im Januar auch selbst ausgehalten haben – das wird schnell vergessen“, sagt die gelernte Krankenschwester, die vor viereinhalb Jahren zum BRK gestoßen war.

Während der ersten Pandemie-Welle hätten die Menschen noch applaudiert. Später seien Pflegekräfte wie Aussätzige behandelt worden, die das Corona-Virus übertragen könnten.

"Ganz viel Liebe und Herzblut"

„Wir machen unsere Arbeit mit ganz viel Liebe und Herzblut“, sagt Piller, der besonders die Behauptungen wehtun, die auch Heimleiter Stephan Kronzucker aus den zurückliegenden Corona-Wochen zur Genüge kennt. „Die Leute werden weggesperrt!“, lautet eine. „Jetzt pflegen sie die Leute mies, weil die Angehörigen und der Medizinische Dienst der Krankenkassen nicht mehr ins Haus dürfen!“ eine andere. „Die Menschen vereinsamen doch da drin, weil sich keiner um sie kümmert und der Betreuungsdienst nichts macht!“ die nächste…

Kronzucker, Piller und Brigitte Wingerter, die Leiterin des siebenköpfigen Betreuungsteams in Geisenhausen, führen so viele Gespräche wie nie, um all die Aussagen zu entkräften – und gestalten den Heimalltag für die Menschen jeden Tag aufs Neue „auch in Pandemie-Zeiten ideen- und abwechslungsreich“, wie sie sagen. Natürlich gab und gibt es die Auflagen der Behörden.

„Aber wir haben selbst in Hoch-Corona-Zeiten niemanden weggesperrt“, blendet Silke Piller zurück. „Angehörige hatten zu jeder Zeit die Möglichkeit, sich zu verabschieden. Keiner unserer Bewohner ist einsam und allein gestorben.“

Und: Die Mitarbeiter aus der Pflege hätten jeden Tag ihr Bestes gegeben – trotz der Angst, sich oder ihre Familien zu infizieren und trotz der zusätzlichen Belastung. Denn: Eine Reihe betroffener Kollegen musste in Quarantäne und stand dem Team über viele Tage hinweg nicht zur Verfügung.

„Unsere Bewohner waren zu jeder Zeit so versorgt, wie man sich das vorstellt, und standen immer im Mittelpunkt – trotz und gerade wegen Corona“, tritt Piller der Vermutung entgegen, die Versorgung der Menschen habe gelitten oder sie seien in totale Isolation geraten.

Stephan Kronzucker, der die Einrichtung in der Bahnhofstraße seit eineinhalb Jahren leitet, unterstreicht das. Während des gesamten Ausbruchsgeschehens seien die Bewohner beispielsweise morgens – „natürlich mit Abstand“ – weiterhin im Speisesaal zusammengekommen.

Bis auf einen Wohnbereich, für den während des akuten Ausbruchsgeschehens Einschränkungen galten, um Infektionsketten zu durchbrechen, sei das gesamte Haus für die Senioren immer offen gewesen. „Ich glaube, jeder unserer Bewohner hatte während der gesamten Corona-Zeit mehr Kontakte als jeder andere Mensch, der draußen vom Lockdown betroffen war“, meint der 41-Jährige.

Die Betreuung lief in den vergangenen Monaten ebenfalls fast normal weiter. „Das Einzige, was wir nicht machen durften, war singen – und es gab keine wohnbereichsübergreifenden Angebote“, berichtet Brigitte Wingerter, die mit ihren Kolleginnen viele Angebote kurzerhand nach draußen verlegte. Wie die Senioren freute sie sich alle 14 Tage über die Auftritte von Musikgruppen unter freiem Himmel, die ihr Bestes gaben, die Bewohner an den Fenstern zu unterhalten.

"Wir haben einige Sachen über Bord geworfen"

Krisenstimmung oder Tristesse kamen im Heim zu keiner Phase der Pandemie auf – ganz im Gegenteil. Unisono berichten Wingerter, Piller und Kronzucker, dass Corona im Alltag seit März 2020 eine Reihe an positiven Veränderungen brachte. „Wir sind dazu übergegangen, viel, viel individuellere Dinge zu machen“, sagt Piller. „Ja, wir haben einige Sachen über Bord geworfen und uns neu entdeckt.“

Angebote in großen Gruppen, die durch das Virus-Geschehen nicht mehr stattfinden durften, gehören so in Geisenhausen fast schon der Vergangenheit an. „Und die Leute lieben es“, fügt Wingerter hinzu.

„Ich glaube, jeder unserer Bewohner hatte während der gesamten Corona-Zeit mehr Kontakte als jeder andere Mensch, der draußen vom Lockdown betroffen war." Heimleiter Stephan Kronzucker

Die festen Wochenabläufe und Programmpunkte – darunter Gottesdienste, die aus der hauseigenen Kapelle auf die Fernsehgeräte in den Zimmern übertragen werden, oder Gymnastik- und Yoga-Stunden – sind zwar im Großen und Ganzen beibehalten worden.

„Aber viel kleiner und kreativer“, berichtet die 55-Jährige. Das begann bei der Sturzprävention, die in Gruppen mit fünf Teilnehmern viel zielgerichteter eingeübt werden konnte – und hörte bei der Weihnachtsfeier im Dezember auf. 

Die fand nicht mehr in großer Runde für die gesamte Einrichtung statt, sondern in abgespeckter Form mit besinnlicher Musik und in heimeliger Atmosphäre auf den einzelnen Stationen. „Das war das schönste Weihnachten, das wir hier je gehabt haben“, hörten die BRK-Mitarbeiter die Bewohner mehr als einmal sagen.

Zu den Neuerungen in der Bahnhofstraße gehört seit dem Corona-Jahr 2020 auch ein Märchenzimmer, dessen Wand mit einer entsprechenden Landschaft bemalt worden ist. In einem Sessel nimmt dort regelmäßig eine Märchenerzählerin mit den passenden Requisiten Platz, um für die Bewohner Geschichten vorzutragen. Auch ein Kaminzimmer mit künstlichem, flackerndem Feuer ist im BRK-Seniorenheim eingerichtet worden.

Verkaufswagen kommt gut an

Eine Neuerung, die laut Silke Piller besonders gut ankommt, ist der Verkaufswagen – ein umgebauter Bollerwagen mit Regalflächen, der immer dienstags durchs gesamte Haus gefahren wird. Die Bewohner haben so die Möglichkeit, Pflegeprodukte, Lebensmittel oder Süßigkeiten zu kaufen – wie früher in kleinen Papiertüten.

Die nächste Idee, an der das Betreuungsteam arbeitet, ist ein mobiles Hochbeet, das mit saisonalen Pflanzen oder Kräutern bepflanzt wird. Es soll auf Rollen bis auf die einzelnen Zimmer geschoben werden können, damit auch Personen, die nicht mehr gut zu Fuß oder sehr pflegebedürftig sind, daran arbeiten und die frische Erde ertasten können.

Schon kaum mehr wegzudenken ist die „Wellness-Oase“, in der eine gelernte Friseurmeisterin aus Wingerters Team neuerdings für ein Wohlfühlprogramm sorgt – die älteren Herrschaften, Damen wie Herren, erhalten dort nicht nur Haarschnitte. Auch Nagelpflege sowie Kopf- und Handmassagen werden dort angeboten.

Abgerundet wird das Betreuungsprogramm in Geisenhausen durch Angebote für den Magen und den Geist. Die Bewohner stellen unter Anleitung Liköre her, backen Kuchen oder betätigen sich in einer Handarbeitsgruppe an einem Webrahmen.

„Die Ruhe hat vielen gutgetan – manche haben wirklich für sich ihre Ruhe gefunden.“ Silke Piller, Pflegedienstleiterin

„Da sind einige altherbrachte Traditionen wieder aufgelebt“, erzählt Brigitte Wingerter, die gelernte Buchhalterin ist und vor neun Jahren als hauptamtliche Betreuungskraft zum BRK kam.

Bei all dem stellten sie, Kronzucker und Piller bei den Senioren während des Lockdowns und in den Wochen der eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten einige Veränderungen fest. „Die Ruhe hat vielen gutgetan – manche haben wirklich für sich ihre Ruhe gefunden“, berichtet Silke Piller.

Einige der Senioren seien regelrecht aufgeblüht und ganz neu in der Gemeinschaft angekommen. „Die Bewohner haben wieder gelernt, miteinander zu reden und aufeinander aufzupassen“, ergänzt Brigitte Wingerter.

Sie schöpfen selbst viel Kraft

Die Heim-Verantwortlichen schöpfen selbst jede Menge Kraft daraus und sind zuversichtlich, mit dem Abebben der dritten Corona-Welle endlich das in die Öffentlichkeit hinaustragen zu können, was sie sich als Führungsteam vorgenommen hatten. Zum Jahreswechsel 2019/2020 sprühten Piller und Kronzucker schon einmal vor Plänen und Energie. Bis alles anders kam…

Am 10. Februar 2020 deckte ein Sturmtief das Dach der Einrichtung ab und sorgte für einen Aufnahmestopp – kurz darauf trat Corona seine unheilbringende Reise um die Welt an. „Wir hatten unglaublich viel Motivation und Spaß – bis uns Naturgewalten und ein Virus richtig ausgebremst haben“, sagt Piller. „Das Haus wirklich in der Gemeinde zu präsentieren – diese Chance hatten wir nie.“

Hintergrund: Die Folgen von Corona

  • Bewohnerzahlen: Aktuell leben im BRK-Seniorenheim in der Bahnhofstraße – Träger ist der Bezirksverband Niederbayern/Oberpfalz mit Sitz in Regensburg – 73 Bewohner. Vor dem Corona-Ausbruch am 14. Dezember 2020 waren es nach Angaben von Einrichtungsleiter Stephan Kronzucker 87. „Wobei in die niedrigere Belegung nicht nur die sieben Personen hineinspielen, die an oder mit dem Virus starben, sondern auch ‚normale’ Todesfälle sowie Auszüge nach einer Kurzzeitpflege", erklärt der 41-Jährige.
„Dazu kommt, dass wir früher relativ viele Kurzzeitpflegeplätze hatten. Aber wenn die Leute durch einen Dauerlockdown, wie wir ihn erlebt haben, nicht in den Urlaub fahren können, ist dadurch kein Bedarf da.“ Stephan Kronzucker, Heimleiter
  • Nachfrage: Generell kämpft Kronzucker, der seit elf Jahren beim BRK arbeitet, wie viele seiner Kollegen, auch anderer Träger, mit einer schleppenden Nachfrage nach Heimplätzen. „Corona hat sich hier schon in den Köpfen eingebrannt“, stellt er fest. Die Ursachen für das gesunkene Interesse stehen für ihn im Zusammenhang mit der Pandemie. Neben den direkten Auswirkungen auf den Heimalltag spiele teils auch die Kurzarbeit eine Rolle. Sie bringe einerseits eine veränderte finanzielle Situation mit sich, andererseits biete sie Angehörigen zeitlich die Möglichkeit, die Pflege ihrer Familienangehörigen selbst zu übernehmen.
  • Kurzzeitpflege: „Dazu kommt, dass wir früher relativ viele Kurzzeitpflegeplätze hatten. Aber wenn die Leute durch einen Dauerlockdown, wie wir ihn erlebt haben, nicht in den Urlaub fahren können, ist dadurch kein Bedarf da“, sagt der Einrichtungsleiter. Zuversichtlich stimmen ihn das Voranschreiten der Impfkampagne und die drastisch gesunkenen Inzidenzwerte. „Ich hoffe, wir haben das Schlimmste hinter uns“, gibt er sich zuversichtlich.