„Politische Demenz": Wenn Krisen in Vergessenheit geraten

DRK-Generalsekretär Christian Reuter und Professor Dr. Peter Bradl von der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt legten in ihren Begrüßungsreden beim 12. Bayerischen Katastrophenschutz-Kongress in Weiden mehrfach den Finger in die Wunde. Reuter forderte in seinem „Blitzlicht aus Berlin“ von der Politik die viel zitierte Zeitenwende und den immer wieder beschriebenen „Wumms“ auch im Bevölkerungsschutz. Bayerns Justizminister Georg Eisenreich sicherte den Vertretern der Rettungsorganisationen volle Rückendeckung zu. „Die Politik und die Gesellschaft sind auf euch angewiesen“, erklärte der Schirmherr der BRK-Bereitschaften.

Von Frank Betthausen

Weiden. Alles nur in schillernden Farben beleuchten und schildern? Nein, das will Landes- und Bezirksbereitschaftsleiter Dieter Hauenstein als Organisator des Bayerischen Katastrophenschutz-Kongresses auf keinen Fall. Die Großveranstaltung, die an diesem Wochenende zum zwölften Mal seit dem Jahr 2000 in Weiden stattfindet, soll ganz bewusst kritische Denkanstöße liefern – in die Politik hinein genauso wie in den eigenen Verband.

„Es schadet aber auch nicht, wenn man in Krisen weiß, was wir an Ressourcen haben.“ DRK-Generalsekretär Christian Reuter

Und so legten DRK-Generalsekretär Christian Reuter und Professor Dr. Peter Bradl von der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt – er ist selbst schon lange beim BRK aktiv – in ihren Begrüßungsbeiträgen am Freitagabend in der Max-Reger-Halle mehrfach den Finger in die Wunde.

Reuter beispielsweise forderte in seinem „Blitzlicht aus Berlin“ vor hochrangigen Gästen – unter ihnen DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt – von der Politik die viel zitierte Zeitenwende und den immer wieder beschriebenen „Wumms“ auch im Bevölkerungsschutz. „Denn wir haben eigentlich permanent Krise – nicht mehr alle paar Jahre“, sagte er.

Anfangs ist die Begeisterung grenzenlos

Reuter war direkt aus Genf angereist und hatte drei Thesen in die Oberpfalz mitgebracht.

Die erste hatte die „politische Demenz im Bevölkerungsschutz" zum Inhalt. „In der Krise, in der Katastrophe, ist die Begeisterung, ist die Unterstützung für jede Hilfsorganisation schier grenzenlos“, hielt Reuter im Gustav-von-Schlör-Saal fest. Danach sinke die Bereitschaft, sich diesem Thema zu stellen, wieder.

„Das ist partei- und regierungsübergreifend bisher immer so gewesen. Das nenne ich dann die politische Demenz: Man vergisst das, was man sich in der Krise mühsam erarbeitet hat“, erklärte der Gast aus Berlin, der als eines der „größten, drängendsten Themen“ dieser Tage die weltweite Migration nannte.

In seiner zweiten These beschäftigte sich der Diplom-Volkswirt, der seinen Posten beim DRK seit 2015 bekleidet, mit dem Postulat, den „Bevölkerungsschutz neu innovativ-vernetzt zu denken“. Mit Blick auf die Krisen der vergangenen Jahre bescheinigte er dem Roten Kreuz dabei „unglaublich viele Kompetenzen“.

Eine der Kernkompetenzen sei das Thema Betreuung. „Und wir müssen schlicht und ergreifend in Betreuungsszenarien denken“, forderte der Generalsekretär, der sich in Weiden als „bekennender Anhänger“ des drkservers outete. Die Plattform bündelt Personal und Material, Adressen und Ereignisse in einem zentralen Online-Ressourcen-Management.

Der wichtige Blick auf die Ressourcen

Für Reuter ein entscheidendes Instrument! „In Krisen Köpfe kennen“: Ja, die berühmten drei Ks seien wichtig, erklärte er. „Es schadet aber auch nicht, wenn man in Krisen weiß, was wir an Ressourcen haben. Und es schadet diesem Verband auch nicht, zu wissen, wenn er in einer Datenbank oder App nachschauen kann, was überhaupt in den Lagern ist.“

Vor diesem Hintergrund sei er dem BRK sehr dankbar, dass es sich dem drkserver anschließe. „Das ist eine richtig gute, wichtige Entscheidung“, sagte der Vorsitzende des Vorstands des Deutschen Roten Kreuzes. 

Mit seiner dritten These blieb Reuter selbstkritisch ebenfalls im eigenen Verband. „Es gehört auch dazu, uns ehrlich zu machen“, umschrieb er sie und führte den Hochwasser-Einsatz im Ahrtal als Beispiel an. Auf der einen Seite sei er „eine überaus erfolgreiche Hilfsoperation“ gewesen.

Und andererseits?

„Wenn wir ganz ehrlich miteinander sind, dann ist diese Operation nur einigermaßen heil zustande und dadurch zu Wege gebracht worden, weil viele hochqualifizierte ehren- und hauptamtliche Einsatzkräfte im DRK im Zweifelsfall Dienstvorschriften – gleich welcher Art – haben liegenlassen und das Ding einfach gewuppt haben.“ Er wolle sich nicht vorstellen, „was passiert wäre, wenn wir in dieser Bundesrepublik Ahrtal plus erlebt hätten“.

„Die Herausforderungen werden nicht weniger, sie werden mehr und sie werden auch immer komplexer." Justizminister Georg Eisenreich

Und damit meine er ganz ausdrücklich auch das Deutsche Rote Kreuz, das hier deutlichen Nachsteuerungsbedarf habe. Das Präsidium, berichtete er, habe das Ganze entsprechend angestoßen. „Ich verspreche Ihnen, wir werden eine sehr ehrliche Bestandsaufnahme machen mit deutlichen Verbesserungsvorschlägen“, sagte er mit Blick auf eine effektivere, weniger bürokratische Einsatzkoordination, die unter dem Strich als Ziel steht, und richtete diese Aussage nicht zuletzt an die Adresse der Gemeinschaften.

Als „Treppenwitz“ bezeichnete es der Redner, dass im Jahr 2023 „noch irgendein Mensch“ das Thema Helfergleichstellung ansprechen müsse. „Ich weiß“, sagte er und blickte in Richtung Justizminister Georg Eisenreich, „dass in Bayern an der Stelle eine ganze Menge gemacht worden ist, aber auch da – beim Thema ‚Üben, Trainieren' – wäre zumindest der Wunsch aus Berlin, dass man da als Staatsregierung auch nochmal nachbessert.“

Bayern „ist anderen Bundesländern weit voraus"

Wenngleich der Freistaat im Verhältnis zu anderen Bundesländern tatsächlich weit voraus sei, was die Helfergleichstellung und das Anerkennen von ehrenamtlicher Arbeit und ehrenamtlicher Leistung angehe.

Aussagen, die Georg Eisenreich als Schirmherr der BRK-Bereitschaften gerne hörte. Er hielt am Freitag die Begrüßungsrede vor den internationalen Kongress-Teilnehmern und strich den „großartigen Einsatz“ aller haupt- und ehrenamtlichen Aktiven im Freistaat heraus.

Jeden Tag könnten Menschen in Situationen geraten, in denen sie auf professionelle und engagierte Hilfe angewiesen seien. „Es ist gut zu wissen, dass wir die Feuerwehr, das THW, aber auch die Hilfsorganisationen haben. Euer Einsatz ist auch in einem reichen Land wie Deutschland und auch in einem reichen Land wie Bayern unbezahlbar“, sagte der CSU-Politiker, der nicht zuletzt die fordernde Zeit der Pandemie in Erinnerung rief.

„Ihr genießt größten Respekt bei der Politik“

Gleichzeitig ging er auf Unwetter oder Wetterextreme ein, die immer häufiger aufträten. „Die Herausforderungen werden nicht weniger, sie werden mehr und sie werden auch immer komplexer“, sagte Eisenreich. Deswegen sei es wichtig, dass sich alle, die sich in diesem Bereich engagierten, austauschten, sich weiterbildeten und sich damit fit für die Zukunft machten.

„Die Politik und die Gesellschaft sind auf euch angewiesen – und ich kann euch versichern, dass ihr größten Respekt bei der Politik genießt“, betonte der Minister, der Dieter Hauenstein und seiner Mannschaft des BRK-Bezirksverbands „für die großartige Organisation“ des Katastrophenschutz-Kongresses dankte. 

Einer realistisch-kritischen Situationsbeschreibung widmete sich Professor Dr. Peter Bradl, Leiter des Instituts für Rettungswesen, Notfall- und Katastrophenmanagement an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, in seinem Impulsreferat zu den Herausforderungen des Katastrophenschutzes. Dabei griff er immer wieder auf seine lange Erfahrung im Wasserrettungsdienst zurück und setzte eine Grundannahme voraus: „Die Bevölkerung verlässt sich darauf, dass es funktioniert.“

Einer seiner Appelle an das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen lautete, sich mit der eigenen Wahrnehmung zu beschäftigen. „Wo ist unser Selbstverständnis?“, fragte Bradl, der „den K-Schutz der Zukunft“ in besonderer Weise darin verankert sah, dieses Selbstverständnis zu entwickeln. So wie ein neues Selbstbewusstsein! Und: mehr Verständnis in der Bevölkerung!

„An mir und an den meisten von uns tropft das ab, aber an jemandem, der gerade am Scheideweg steht, tropft das nicht ab.“ Professor Dr. Peter Bradl, Leiter des Instituts für Rettungswesen, Notfall- und Katastrophenmanagement an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt

Denn die Gegenwart für Ehrenamtliche oder Einsatzkräfte besteht nach Bradls Schilderungen viel zu oft darin, „dass ich mich rechtfertigen muss, wenn ich zum Übungsabend gehe“. Verbunden mit Fragen wie: Musst du da hin? Was bringt dir das? Was kriegst du dafür?

„An mir und an den meisten von uns tropft das ab, aber an jemandem, der gerade am Scheideweg steht, tropft das nicht ab“, erklärte Bradl. „Wieso gelingt es uns nicht, die Menschen dazu zu bringen, zu sagen: Das ist super.“

Sein Appell: Die Menschen besser qualifizieren

Dabei sieht er die Organisationen genauso in der Pflicht. „Wenn wir uns noch besser aufstellen wollen, müssen wir auch die Menschen besser qualifizieren“, forderte er auf der einen Seite.

Andererseits rief er die seit Jahren wachsenden Anforderungen bei Technik und Ausrüstung sowie das Zeitbudget der Helfer in Erinnerung. „Lasst uns doch auch darüber nachdenken, ob all das, was wir zum Einsatz bringen, im Einsatz einen Mehrwert bietet und ob wir Menschen dafür für die Zukunft ausbilden müssen“, sagte Bradl.

Die Vorkehrungen für den Ernst- und Katastrophenfall in Deutschland hält er nach eigenen Angaben für zu wenig perspektivisch, dafür aber für zu retrospektiv. „Szenarien interessieren mich nicht. Mich interessiert: Was kann meine Funktionsfähigkeit beeinträchtigen? Wir dürfen uns nicht darauf versteifen, dass die Szenarien, die wir erlebt haben, die Basis sind für das, auf was wir uns vorbereiten müssen“, sagte er.

Eine Zielgruppe kommt ihm zu kurz

Eine Zielgruppe, die im Moment viel zu wenig im Fokus sei, seien die vulnerablen Gruppen. „Und damit meine ich tatsächlich die Menschen, die auf die Hilfe des Roten Kreuzes angewiesen sind und auf die man nicht vorbereitet ist“, sagte der Institutsleiter, der im Anschluss eine Podiumsdiskussion moderierte.

Politiker und Vertreter von Rettungsorganisationen skizzierten in der Gesprächsrunde die Leitlinien für einen zukunftsfähigen Katastrophenschutz.