Was ihm seine Jugendlichen im Vertrauen erzählten, behielt er immer für sich

Heinrich Müller, der im Frühsommer sein Amt als Bezirksvorsitzender des Bayerischen Jugendrotkreuzes in jüngere Hände legte, brachte sich 57 Jahre lang in die Nachwuchsarbeit ein. „Offen sein für alles!“ und „Auch mal Fünfe gerade sein lassen!“: So lauteten zwei seiner Leitsätze. Die Jugend sei viel weiblicher geworden, meint der Bad Birnbacher in seiner Rückschau. Weniger Respekt als früher habe sie nicht, aber unpolitischer sei sie geworden.

Von Frank Betthausen

Bad Birnbach. Wie verschaffst du dir Respekt bei Jugendlichen? Durch Autorität? Klare Ansagen? Grenzen? Heinrich Müller fasst sich kurz in den grauen Vollbart. „Mit Vertrauen“, antwortet er ruhig, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen. „Man konnte mir alles erzählen – und ich habe es für mich behalten“, sagt der frühere Bezirksvorsitzende des Bayerischen Jugendrotkreuzes (BJRK). Im Frühsommer hatte der Bad Birnbacher seinen Posten nach acht Jahren abgegeben und die Verantwortung in die Hände von Dr. Michael Papacek gelegt. 57 Jahre lang hatte sich Müller ins Jugendrotkreuz eingebracht, rund 30 Jahre lang führte er als Leiter eigene Gruppen.

„Die Frage, woher wir kommen, das Völkerverbindende, das Menschliche – das war für mich immer das Wichtigste." Heinrich Müller

Vertrauen – das zählte für den 67-Jährigen immer. Erst recht dann, wenn ihm seine Schützlinge privaten Kummer offenbarten. Müller erinnert sich aber auch an Fälle, in denen er sein Schweigen brach und Kontakt zu Arbeitgebern oder Vorgesetzten aufnahm, weil ihm jemand am Rande einer Gruppenstunde erzählt hatte, dass er mit Problemen im Job kämpft. Und hatte er weitere Leitsätze bei der Jugendarbeit? Der Niederbayer muss abermals nicht lange grübeln. „Offen sein für alles!“ Und: „Auch mal Fünfe gerade sein lassen!“

Das bedeutete jedoch nicht, dass er Dinge schleifen ließ. Ein Thema beispielsweise war ihm immer ein besonderes Anliegen: „seine“ Kinder und Jugendlichen mit den Grundsätzen und der Philosophie des Roten Kreuzes vertraut zu machen. „Die Frage, woher wir kommen, das Völkerverbindende, das Menschliche – das war für mich immer das Wichtigste“, sagt der Unternehmer, der im Bad Birnbacher Ortsteil Schwaibach eine Motorgerätefirma betreibt.

Aber nicht nur wegen des Denkmals...

Da verwundert es wenig, dass Müller für das Jugendrotkreuz mehr als eine Fahrt nach Solferino organisierte, jenen Ort in Italien, an dem Henry Dunant nach einer grausamen Schlacht im Sardinischen Krieg 1859 den Grundstein für die Arbeit der weltweit tätigen Hilfsorganisation legte. Auch Genf als Sitz des „Internationalen Komitees vom Roten Kreuz“ gehörte während der Reisen, die der 67-Jährige organisierte, zum Besuchsprogramm.

Zwölfmal war er in seinen Rot-Kreuz-Jahren in Solferino. „Aber nicht nur wegen des Denkmals, sondern auch, weil es dort ein hervorragendes Restaurant gibt“, sagt er und lacht. Einfach mal Fünfe gerade sein lassen: Heinrich Müller lebt, was er sagt und denkt…

So, wie er auf seine eigene Jugendrotkreuz-Geschichte ehrlich und unverstellt zurückblickt. Was für ihn der Reiz an der Jugendarbeit war? „Am Anfang habe ich es gemacht, weil ich freigestellt war von der Bundeswehr“, sagt er. Doch er fand schnell Gefallen an der ehrenamtlichen Tätigkeit, die er 1973 im Alter von 19 Jahren als Leiter der JRK-Gruppe in seinem Heimatort Schwaibach übernahm. In einem alten Gasthof! Die Gruppe war die erste überhaupt im damaligen Landkreis Pfarrkirchen gewesen. Bei der Gründung 1964 mit dabei: Heinrich Müller! Als zehnjähriger Pimpf...

„Ich hatte zur Spitzenzeit 48 Kinder in zwei Gruppen unter meinen Fittichen“, erinnert sich der Niederbayer. Sein Amt als Gruppenleiter gab er erst um das Jahr 2000 herum ab. „Als Fossil“, wie er sagt. Aufgaben und Herausforderungen gab es dennoch weiter mehr als genug.

Seit 1990 fungierte Müller als Leiter der Jugendarbeit im BRK-Kreisverband Rottal-Inn. Jedes Jahr, das hatte er sich als Ziel gesteckt, wollte er eine neue Gruppe ins Leben rufen. Als er sein Amt 2009 niederlegte, wies die Statistik beachtliche 16 JRK-Ableger aus.

Auch in diesem Zusammenhang ist der eingefleischte Rotkreuzler sehr direkt und lässt durchblicken, dass Qualität für ihn – allen Bemühungen, ein dichtes Netz an Ortsgruppen auszulegen – immer vor Quantität ging. Dass vieles, wenn nicht alles, mit der Auswahl der richtigen Leute zu tun hatte... „Ein schlechter Jugendleiter ist viel schlechter, als keine Gruppe zu haben“, sagt Müller, der nebenbei auch noch 24 Jahre lang Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Schwaibach war.

Bis zum vergangenen Jahr brachte er sich dort außerdem als Vorsitzender ein. Aktuell bekleidet er noch den Stellvertreterposten.

Das BRK war immer sein Leben

Dazu kamen weitere BRK-Ämter. Über drei Wahlperioden hinweg, zwölf Jahre lang, stand er als stellvertretender Vorsitzender mit an der Spitze des BRK-Kreisverbands Rottal-Inn, in dem er Mitbegründer des Kriseninterventionsteams war. Bis 2013 agierte er als stellvertretender Bezirksjugendausschuss-Vorsitzender – und schließlich bis 2021 als erster Mann an der Spitze des Gremiums.

„Ich wollte diesen Job nie machen und habe als junger Mann immer über die Alten geschimpft. Jetzt war ich selber alt und auf einmal in diesem Amt“, erinnert er sich an seine Wahl 2013. „Aber es wollte einfach keiner machen damals.“

„Ein schlechter Jugendleiter ist viel schlechter, als keine Gruppe zu haben." Heinrich Müller

57 Jahre Jugendrotkreuz… Welche Veränderungen fallen einem da auf? Die Jugend sei viel weiblicher geworden, erzählt Müller. Die Aussage bezieht er auf die Jugendgruppenleiter genauso wie auf die Teilnehmer an den Wettbewerben. Früher seien junge Frauen eine Ausnahme beim Jugendrotkreuz gewesen. Heute mache ihr Anteil mindestens 70 Prozent aus, schätzt er.

Dass die Jugend, wie es gerne vorgebracht wird, mittlerweile weniger Respekt habe, kann der Bad Birnbacher nicht bestätigen. Das sei früher auch nicht anders gewesen, meint er und verweist auf seinen Vater, der eher konservativ gewesen sei. Alles eine Frage der Wahrnehmung zwischen den Generationen also!

„Wir waren allerdings politischer als die Jugendlichen heutzutage“, schiebt Müller nach, der vier Söhne hat – der Älteste ist 42, der Jüngste 36 – und neunfacher Großvater ist.

Ein Problem, das er inzwischen in der Jugendarbeit ausmacht, sind die fehlenden Konstanten. „Man findet gute Leute für Projekte, aber dann sind sie wieder weg und machen etwas anderes“, beschreibt er seine Erfahrungen. Gerade bei den Jugendleitern hat er festgestellt, dass viele ihr Engagement beim JRK beenden – manchmal natürlich auch beenden müssen –, wenn sie eine andere Arbeitsstelle antreten oder zum Studieren fortgehen.

Jeder wartet bis zum Schluss

Dazu kämen aber auch extrem viele Verpflichtungen. „Und: Die jungen Leute können sich auf nichts mehr festlegen“, sagt er. „Jeder wartet immer bis zum Schluss, ob nicht noch etwas Besseres kommt.“ Das hatte und hat vor allem Auswirkungen auf die Lehrgangsanmeldungen – und ist in seinen Augen ein Grund, warum so viele JRK-Seminare ausfallen.

„Das war früher nicht so“, sagt Müller, der darüber hinaus festgestellt hat, dass die Jugendgruppen immer kleiner werden. „Heute bringst du nur noch zehn Kinder zusammen“, erklärt er. In seinem Heimatort Schwaibach, in seiner besten Zeit eine „JRK-Hochburg“, gibt es überhaupt keine Gruppe mehr.

Müller erzählt auch das ruhig und abgeklärt. Sein Abschied aus der Jugendarbeit im Frühsommer 2021 war wohlüberlegt. „Als alter Mann war ich nicht mehr am Puls der jungen Menschen“, hält er fest. Wenngleich er einräumt, dass er am Anfang durchaus ins Leere gefallen ist, als auf einmal keine Mails mehr kamen und keine Termine mehr anstanden.

300 Kilometer für einen Mähroboter

Langweilig wird es Müller, der es seinem Nachfolger Michael Papacek „so leicht machen wollte wie möglich“ im Jugendrotkreuz-Ruhestand nicht. Obwohl er beruflich als gelernter Landmaschinenmechaniker ebenfalls längst im Rentenalter wäre, ist er immer noch Inhaber der Motorgerätefirma, die er 1991 von seinem Vater übernommen hatte.

Sein zweitältester Sohn ist zwar längst in den Betrieb mit eingestiegen, doch Müller arbeitet immer noch sechs Tage die Woche und fährt samstags schon einmal 300 Kilometer, um einen Mähroboter oder Hochdruckreiniger auszuliefern.

Ob er etwas bedauert? Nein! Höchstens, dass so wenig Zeit für sein Hobby, das Reisen, bleibt. Und dass ihm durch die Pandemie zum Abschied eine große Freude verwehrt blieb. „Die Bezirkswettbewerbe waren für mich immer das Schönste beim Jugendrotkreuz“, sagt er. Sein letzter hätte 2020 beim Kreisverband Rottal-Inn stattgefunden.

Es wäre ein „Homerun“ für ihn gewesen, wie er sagt. Doch Corona wollte es anders...